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"Seit mehreren Jahren lässt sich eine wachsende Beschäftigung der Sonderpädagogik mit Fragen der Begründung ihrer Legitimität und des Einsatzes für behinderte Menschen beobachten. Mit diesem Interesse verbindet sich inzwischen der Anspruch, eine eigene ethisch-normative Kompetenz hinsichtlich Selbstverständnis und klientenorientiertem Handeln zu besitzen. Christian Liesen macht es sich in seinem Buch Gleichheit als ethisch-normatives Problem zur Aufgabe, die vorherrschenden Rechtfertigungsstrategien der Sonderpädagogik am Beispiel des Integrationsgedankens zu beleuchten. Anhand der Konzeption von John Rawls’ Gerechtigkeit als Fairness im Verbund mit Amartya Sens Fähigkeitenansatz (capability approach) diskutiert er, inwiefern dem universalen Standpunkt der Gerechtigkeit in der sonderpädagogischen Ethik mehr Raum gegeben werden kann. Seine Veröffentlichung wurde bereits im Wintersemester 2003/2004 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich als Dissertation angenommen. Der Autor versteht sein Buch als Resultat interdisziplinärer Forschung zwischen Philosophie und Sonderpädagogik. In seinem Einleitungskapitel formuliert er den kritischen Befund, dass die Sonderpädagogik an einem Rechtfertigungs- bzw. Begründungsdefizit leide: „Das Problem der Sonderpädagogik, um das es im Kern geht, ist die Rechtfertigung sonderpädagogischen Handelns.“ (11) Der Sonderpädagogik sei es bislang nicht gelungen, ihr Handeln wohlerwogen von einem unparteilichen und universalen Standpunkt aus ethisch-normativ zu rechtfertigen. Dem Begriff Integration könne sie dadurch auch keine Geltung, sondern allenfalls suggestive Kraft verleihen. Liesen beginnt sein Buch nicht mit einer vergleichenden Darstellung von Gerechtigkeitstheorien, sondern wählt einen analytischen Zugang zur Gleichheitsidee, um geeignete Instrumente bereitzustellen, mit denen er das Problem der Rechtfertigung sonderpädagogischen Handelns im weiteren Verlauf behandelt. Liesens zentraler Gedanke lautet, dass Theorien, die sich mit sozialer Gerechtigkeit befassen, auf irgendeinem Gebiet Gleichheit fordern müssen, um überhaupt Plausibilität zu besitzen. Gleichheit misst er dabei keinen intrinsischen Wert zu. Sie besitzt instrumentellen Wert, d.h. sie bedarf handlungsleitender normativer Regeln, die darüber bestimmen, was zu tun ist. Eine Gerechtigkeitstheorie, so Liesen, muss die Frage beantworten, welche normativen Regeln als Vergleichsmaßstab dienen sollen. Gleichheit steht hier für ein Spannungsverhältnis zwischen ethisch-normativem Partikularismus und mit Gerechtigkeit verbundenen Postulaten wie Unparteilichkeit, Universalisierbarkeit und der Notwendigkeit relationaler Erwägungen bei der Verteilung von Gütern. Mit Gleichheit und Gerechtigkeit wird auf die Bedeutung einer sozialethischen Dimension sonderpädagogischen Handelns hingewiesen. Im Anschluss daran widmet sich der Autor einer ausführlichen Explikation des Inte-grationsbegriffs. Auf dieser Grundlage setzt er sich mit der Frage auseinander, was es mit dem normativen Problem der Rechtfertigung von Integration, im Zusammenhang mit Gleichheitsaspekten, auf sich hat. Er untersucht Rechtfertigungsstrategien in der Sonderpädagogik, die auf einem zentralen Handlungsprinzip oder Ideal – Chancengleichheit, Solidarität, Grundrechte, Menschenrechte und Menschenwürde – basieren. Integrationsvertreter in der Sonderpädagogik werden scharf kritisiert, die mit diesen Prinzipien als Grund für integrative Praxis argumentieren. Sie können seines Erachtens nicht benennen, inwiefern diese Prinzipien für Integration handlungsleitende Geltung besitzen. Auf einer weiteren Stufe möglicher Rechtfertigung sonderpädagogischen Handelns beschäftigt sich Liesen mit einzelnen theorietragenden normativen Bestandteilen sonderpädagogischer Theorien: anthropologische Fundierung (Georg Feuser, Wolfgang Jantzen), Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit (Annedore Prengel), Empowerment (Wolfgang Plaute, Georg Theunissen) und kantischen Argumentationen (Schönberger). Der Materialistischen Behindertenpädagogik, der Pädagogik der Vielfalt, dem Empowerment-Konzept und dem Entwurf einer Kooperativen Pädagogik fehle es entweder an geeigneten Brückenprinzipien zur Verbindung von normativer Grundlage und handlungsleitenden Regeln, oder sie vernachlässigten den universalistischen Gesichtspunkt der Gerechtigkeit zugunsten parteilicher partikularer Normen. Die normativen Bestandteile könnten jeweils auch das Gegenteil von Integration, nämlich Separation, geboten erscheinen lassen. In einem abschließenden Durchgang werden mit Dieter Gröschkes Praktische Ethik der Heilpädagogik (1993) und Markus Dederichs Behinderung-Medizin-Ethik (2000) zwei prominente Beispiele aus dem Bereich der sonderpädagogischen Ethik diskutiert. Gröschke wird vorgeworfen, dass er den „moral point of view“ als parteilichen charakterisiert und nicht Prinzipien mit universaler Geltungskraft zur Begründung der eigenen Forderungen wählt. Dederichs sonderpädagogische Ethik zeichnet sich für Liesen insofern aus, als dieser der Sonderpädagogik einen Platz in den größeren argumentativen Zusammenhängen ethischer Diskussion zuweist. Er vermag sich jedoch nicht mit dessen Rekurs auf Lévinas anzufreunden und spricht in diesem Zusammenhang von „mysteriöser Lehre“. Für völlig falsch hält er u.a. Dederichs Gedanken, dass die Verwirklichung einer universal verstandenen Gerechtigkeit an die Begegnung und die Beziehung mit dem konkreten Anderen zurückgebunden werden und von dort immer wieder ihren Ausgang nehmen muss. Liesen möchte die normativ-ethische Parteilichkeit und Partikularität der Sonderpädagogik anhand von Überlegungen zur Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls und dem „capability approach“ von Amartya Sen aufheben. Mit Sen geht es ihm darum, eine feiner nuancierte Konzeption von Gleichheit zu entwickeln, als sie sich in Rawls‘ Gerechtigkeitstheorie findet. Rawls‘ Theorie sei mit ihrer Orientierung an der Gleichheit der Grundgüter nicht genügend sensibel gegenüber den Belangen behinderter Menschen. Sein Differenzprinzip könne auch in einer Version Ausdruck finden, wonach nicht nur die ökonomisch am schlechtesten gestellten Gesellschaftsmitglieder bei Umverteilungen zu berücksichtigen sind, sondern auch jene, deren Raum positiver oder realer Freiheiten am geringsten ist oder so gering ist, dass sie nicht als vollwertige Mitglieder am sozialen und politischen Leben teilhaben können. Der „capabilitiy approach“ zeichnet sich für Liesen dadurch aus, dass er bei der Frage nach distributiver Gleichheit nicht nur Grundgüter, sondern auch Grundvermögen berücksichtigt. Sen fragt danach, was Güter Menschen ermöglichen und welche Alternativen sich für sie aus dem Gebrauch von Gütern eröffnen. Dabei geht er von dem Parameter „Fähigkeiten“ für die Bewertung von Wohlergehen und Lebensqualität aus und versteht darunter das Vermögen von Menschen, für ihr Leben wertvolle Funktionen und Tätigkeiten zu realisieren. Rawls‘ Theorie der Grundgüter erlaubt dagegen nur dann eine Bewertung der Gleichverteilung von Vorteilen, wenn Menschen keine Differenzen hinsichtlich ihrer Lebensmöglichkeiten aufwiesen. Ein behinderter Mensch, so Sen, braucht ein höheres Einkommen oder größere Ressourcen, um die Möglichkeit zu erlangen, sein Leben entsprechend dem eines nicht behinderten Menschen zu führen. An Liesens Buch kann die Sonderpädagogik aus mehreren Gründen nicht vorbei sehen. Zum einen kommt ihm der Verdienst zu, die in der Sonderpädagogik nach wie vor vernachlässigte Beschäftigung mit Gerechtigkeitsfragen in anspruchsvoller Weise weiterzuführen, zum anderen vermag er eine Diskussion darüber anzustoßen, ob oder inwieweit dem Integrationsgedanken mit der Berufung auf Fähigkeiten, Kompetenzen bzw. Kapazitäten öffentlich mehr Nachdruck verliehen werden kann. Seine Bezugnahme auf den "capability approach" soll deutlich machen, dass es zuallererst um die gezielte Förderung von behinderten Menschen gehen muss, damit sie über ihre individuelle Lebensgestaltung selbst befinden können. Allerdings setzt sich Liesen nicht ausreichend damit auseinander, inwieweit Sens Begriff der „Fähigkeiten“ an zu anspruchsvolle Bedingungen geknüpft ist und damit die Gefahr einhergeht, Individuen mit sehr schweren Behinderungen abzuwerten. Auch bleibt er den Beweis noch schuldig, ob es damit tatsächlich besser gelingen kann, eine ausreichende Begründung für die heutige Inklusionsbewegung zu erbringen. Liesen legt sich darauf fest, „Standards von Gerechtigkeitstheorien am roten Faden der Rede von Gleichheit zu diskutieren“ und von dort aus sonderpädagogische Ethiken zu kritisieren. Moderne Gesellschaften können jedoch nicht nur an der Verletzung eines allgemeingültigen Gleichheitsprinzips scheitern. Es lassen sich auch soziale Pathologien feststellen, d.h. Praktiken mangelnder Anerkennung, die die Lebensmöglichkeiten der Menschen einschränken oder deformieren. Nur am Rand wird die Frage erörtert, ob Gleichheit auf ein übergeordnetes Prinzip der Anerkennung bezogen sein kann, das sich im Unterschied zur Gleichheit in erweiterten gesellschaftlichen Sphären konkretisiert: In persönlichen Beziehungen ist es mit einer bestimmten Einstellung des Respekts und der Verantwortung gegenüber der personalen Integrität anderer verbunden. Im Bereich des Rechts drückt es sich im Gewähren von individuellen Freiheitsrechten, politischen Teilnahmerechten und sozialen Wohlfahrtsrechten aus. Im zivilgesellschaftlichen Bereich besteht es darin, den Menschen gesellschaftliche Wertschätzung in Form von Verantwortung und Solidarität zukommen zu lassen. Integration wird um so eher den Erwartungen der Öffentlichkeit gerecht, je stärker der Einzelne in diesen unterschiedlichen Anerkennungsverhältnissen berücksichtigt wird. Auch wenn der Autor diesen Gedanken zu wenig verfolgt, ist seinem vorzüglichen Buch eine große Leserschaft zu wünschen." (Hans-Uwe Rösner in EWR 6, 2007, Nr. 1) |